Nachbarrechtliche und mietrechtliche Ansprüche aufgrund innerstädtischer Bautätigkeit

I. Einführung 

Bautätigkeit geht in der Regel mit Lärm, Schmutz, Erschütterungen u.a. einher und führt insbesondere im innerstädtischen Bereich aufgrund der hohen Wohndichte zu Beeinträchtigungen der Nachbarschaft.
An Bauherren werden deshalb häufig Forderungen und Ansprüche der Eigentümer von Nachbargrundstücken herangetragen, die sich in der ungestörten Nutzung ihres Grundstücks beeinträchtigt sehen. Hat der Nachbar Wohn- und/ oder Gewerberaum auf seinem Grundstück vermietet, sieht dieser sich oftmals seinerseits mit Ansprüchen seiner Mieter wegen Beeinträchtigungen des Mietgebrauchs konfrontiert.

In dieser Konstellation können sich nachbarrechtliche und mietrechtliche Ansprüche ergeben, wie der graphischen Übersicht zu entnehmen ist.

Baugrundstück
Nachbargrundstück
Ansprüche
Bauherr (Eigentümer des Baugrundstücks)
Nachbar (Eigentümer und Vermieter des Nachbargrundstücks)
Ansprüche aus Nachbarrecht
Bauherr (Eigentümer des Baugrundstücks)
  Mieter
Ansprüche aus MietrechtAnsprüche aus Nachbarrecht

II. Ansprüche aus dem Nachbarrechtsverhältnis 

Nachbarrechtliche Ansprüche können sich aus einer rechtswidrigen, schuldhaften Eigentumsbeeinträchtigung nach § 823 BGB ergeben und aus dem verschuldensunabhängigen nachbarschaftlichen Anspruch des § 906 BGB, wobei der Anspruch aus § 823 BGB subsidiär ist, d.h. § 906 BGB ist die speziellere Norm (BGHZ 72, 289, 289).

1. Systematik des § 906 BGB 

Die Systematik des § 906 BGB ist folgende:
Nach § 906 Abs. 1 S. 1 BGB muß ein Eigentümer Einwirkungen auf sein Grundstück durch Gase, Dämpfe, Gerüche, Rauch, Ruß, Wärme, Geräusche sowie Erschütterungen u.ä. dulden, soweit diese die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigen.

Eine unwesentliche Beeinträchtigung liegt gemäß § 906 Abs. 1 S. 2 BGB in der Regel dann vor, wenn die in Gesetzen oder Rechtsverordnungen festgelegten Grenz- oder Richtwerte von den nach diesen Vorschriften ermittelten und festgelegten Einwirkungen nicht überschritten werden.

Nach § 906 Abs. 2 S. 1 BGB müssen vom Nachbarn auch wesentliche Beeinträchtigungen durch eine ortsübliche Benutzung des anderen Grundstücks geduldet werden, sofern die Beeinträchtigungen nicht durch Maßnahmen, die dem Benutzer des anderen Grundstücks wirtschaftlich zumutbar sind, verhindert werden können. Hat der Nachbar hiernach die Beeinträchtigung zu dulden, so kann er nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB von dem Benutzer des anderen Grundstücks einen angemessenen Ausgleich in Geld verlangen, wenn die Einwirkungen eine ortsübliche Benutzung seines Grundstücks oder dessen Ertrag über das Zumutbare Maß hinaus beeinträchtigen.

2. Beeinträchtigungen durch Bauarbeiten 

Die Rechtsprechung hat in zahlreichen Entscheidungen festgestellt, daß einzelne, durch eine Bautätigkeit hervorgerufene Erscheinungen zu den Einwirkungen i.S.d. § 906 BGB zählen, insbesondere

Staub durch Gebäudebau (BGH LM Nr. 49; Palandt, Kommentar zum BGB, 59. Auflage 2000, § 906 BGB, Rdnr. 7)
Erschütterungen durch Gebäudebau (BGHZ 85, 375; Palandt, Kommentar zum BGB, § 906 BGB, Rdnr. 12) und Rammarbeiten (BGH, WM 1966, 33; Palandt, Kommentar zum BGB, § 906 BGB, Rdnr. 12)
Geräusche durch Fahrzeuge auf einem (Bau-) Grundstück (BGH LM Nr. 11, 19, 38; Palandt, Kommentar zum BGB, § 906 BGB, Rdnr. 8)
sowie vom Baugrundstück ausgehender Baulärm (LG Kassel, NJW-RR 1989, 1292; Bub/ Treier, Handbuch der Geschäfts- und Wohnraummiete, 3. Auflage 1999, III. B, Rdnr. 1344).

Die Anwendung von § 906 Abs. 2 BGB setzt in diesem Zusammenhang voraus:

eine wesentliche Beeinträchtigung
durch eine ortsübliche Benutzung des Baugrundstücks,
die nicht durch eine dem Grundstückseigentümer zumutbare Maßnahme verhindert werden kann.

Bauarbeiten auf einem Grundstück stellen eine wesentliche Beeinträchtigung i.S.d. § 906 Abs. 2 S. 1 BGB dar, wenn nach dem Empfinden eines verständigen Durchschnittsbenutzers das Nachbargrundstück in seiner durch Natur, Gestaltung und Zweckbestimmung geprägten konkreten Beschaffenheit beeinträchtigt ist (Palandt, Kommentar zum BGB, § 906 BGB, Rdnr. 22). Dies dürfte bei Bauvorhaben, welche die Errichtung von Gebäuden zum Gegenstand haben, regelmäßig der Fall sein.

Die Bebauung eines Grundstücks, das als Baugrundstück im Wohngebiet ausgewiesen ist, kann zudem als ortsüblich gewertet werden (BayObLG, RE-Miet 2/86, NJW 1987, 1950, 1952).

Auch wird die Beeinträchtigung durch die Bautätigkeit in aller Regel nicht durch eine dem Bauherrn zumutbare Maßnahme zu verhindern sein.

Der Nachbar hat die Bebauung also regelmäßig nach § 906 Abs. 2 S. 1 BGB zu dulden.

Der Ausgleichsanspruch in Geld besteht nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB, wenn die zu duldende Einwirkung eine ortsübliche Benutzung des betroffenen Nachbargrundstücks oder dessen Ertrag unzumutbar beeinträchtigt. Die Beurteilung erfolgt im Einzelfall, wobei für die Unzumutbarkeit auf das Empfinden eines normalen Benutzers des betroffenen Grundstücks in seiner örtlichen Beschaffenheit, Ausgestaltung und Zweckbestimmung abzustellen ist (Palandt, Kommentar zum BGB, § 906 BGB, Rdnr. 32; BGHZ 49, 148).

Der Ausgleichsanspruch aus § 906 Abs. 2 S. 2 BGB wird nach Enteignungsgrundsätzen bemessen (BGHZ 85, 375; BayObLG, RE-Miet 2/86, NJW 1987, 1950, 1952).

Ausgleichspflichtig im Sinne des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB ist der Benutzer des emittierenden Grundstücks, also der Eigentümer, der die Nutzungsart bestimmt, und nicht etwa der von ihm beauftragte Bauunternehmer oder Architekt (Palandt, Kommentar zum BGB, § 906 BGB, Rdnr. 31; BGHZ 72, 289; BGHZ 85, 375). Ausgleichsberechtigt sind der Eigentümer des Nachbargrundstücks und dessen Besitzer (Palandt, Kommentar zum BGB, § 906 BGB, Rdnr. 31; BGHZ 30, 273).

3. Verhältnis zwischen Bauherr und Bauunternehmer 

Wenngleich der mit der Errichtung des Gebäudes beauftragte Bauunternehmer gegenüber den Nachbarn grundsätzlich nicht ausgleichverpflichtet ist, kann nicht von der Hand gewiesen werden, daß der Bauunternehmer oftmals maßgeblich auf die Intensität der Beeinträchtigung Einfluß nehmen kann, etwa durch die Verwendung lärmarmer Maschinen.

Die Minimierung der Beeinträchtigung sollte – ungeachtet der bestehenden Prognoseschwierigkeiten – grundsätzlich vorab geplant werden, da sie maßgeblich durch Bautechnik, Bauverfahren und Bauabläufe beeinflußt wird. Geht der Auftragsvergabe ein Ausschreibungsverfahren voraus, kann schon durch die Leistungsbeschreibung in der Ausschreibung die spätere Gestaltung des Baustellenbetriebs entscheidend vorgeprägt werden. Den Rahmen für eine in diesem Sinn vollständige Leistungsbeschreibung bieten § 9 Nr. 4 VOB/A sowie die Allgemeinen Technischen Vertragsbedingungen für Bauleistungen, insbesondere ATV DIN 18 299 (“Allgemeine Regelungen für Bauarbeiten jeder Art“) (Bodanowitz, Jan, Rechtliche Grundlagen des Baulärmschutzes, NJW 1997, 2351, 2357).

Vorteilhaft für den Bauherrn ist es insbesondere, wenn bereits bei Abschluß des Bauvertrags in den bauvertraglichen Rahmenbedingungen das Kostenrisiko für Beeinträchtigungen Dritter, insbesondere der Nachbarn, zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber zugewiesen wird. Die Regelung kann sogar so weit gehen, daß der Bauunternehmer die Verantwortung übernimmt für sämtliche vermeidbaren Beeinträchtigungen.

III. Ansprüche aus dem Mietverhältnis

Zwischen dem Eigentümer des beeinträchtigten Grundstücks und dem Verursacher der Beeinträchtigung besteht das durch § 906 BGB begründetes gesetzliches Schuldverhältnis. Hiervon abzugrenzen ist das Vertragsverhältnis zwischen dem Eigentümer des beeinträchtigten Grundstücks als Vermieter und seinen Mietern mit den daraus folgenden mietrechtlichen Gewährleistungsansprüchen aus §§ 537, 538 BGB (Kinne/ Schach, Mietvertrags- und Mietprozeßrecht, 1. Auflage 1997, Teil I, § 537 BGB, Rdnr. 5).

Das Verhältnis der gegenseitigen Ansprüche stellt sich wie folgt dar.
Den Mietern des beeinträchtigten Grundstücks können aufgrund der Bautätigkeit gemäß § 537 BGB Mietminderungsansprüche gegen ihren Vermieter zustehen.

Der Vermieter wiederum kann von dem bauenden Nachbarn nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB einen angemessenen Ausgleich in Geld verlangen, wenn er eine wesentliche Beeinträchtigung dulden muß und dadurch die ortsübliche Nutzung bzw. der Ertrag über das zumutbare Maß hinaus beeinträchtigt wird (Kinne/ Schach, Mietvertrags- und Mietprozeßrecht, Teil I, § 537 BGB, Rdnr. 5). Hier wird nicht nur die vorübergehende Beeinträchtigung der Nutzung des selbstbewohnten Hauses gerechnet, sondern gerade auch der erlittene Mietausfall aufgrund von Mietzinsminderungen der Mieter (BGHZ 91, 20, 30; BayObLG, RE-Miet 2/86, NJW 1987, 1950, 1952; Kinne/ Schach, Mietvertrags- und Mietprozeßrecht, Teil I, § 537 BGB, Rdnr. 5). Daraus folgt, daß Bestehen und Umfang des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs im Hinblick auf Mietobjekte grundsätzlich davon abhängen, ob der einzelne Mieter zur Mietzinsminderung berechtigt ist und diesen Anspruch gegen den Vermieter durchsetzen kann, insbesondere indem er ein rechtskräftiges Urteil erwirkt. Umgekehrt hat der Vermieter mangels einer Einbuße an Mietertrag keinen Ausgleichsanspruch gegen den Bauherrn, wenn der Mieter mit einem behaupteten und geltendgemachten Minderungsanspruch gegen den Vermieter nicht durchdringt (BayObLG, RE-Miet 2/86, NJW 1987, 1950, 1952).

Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, daß das Gericht in dem Mietzinsprozeß an den Vortrag des Mieters gewisse Anforderungen hinsichtlich der Darlegung und Substantiierung von Beeinträchtigungen des Mietgebrauchs stellt. Auch muß der Mieter im Zweifel Mängel beweisen können (Kinne/ Schach, Mietvertrags- und Mietprozeßrecht, Teil I, § 537 BGB, Rdnr. 7).

Da die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Beeinträchtigung letztlich einer tatrichterlichen Würdigung unterliegt und ein Urteil nur im Verhältnis der Parteien des Rechtsstreits Rechtskraftwirkung entfaltet, sind die im Rahmen des Rechtsstreits der Mietvertragsparteien festgestellten Minderungssätze im Verhältnis zu dem Verursacher der Beeinträchtigungen nicht bindend. In der Praxis wird der Vermieter deshalb im dem Rechtsstreit mit dem Mieter dem Verursacher den Streit verkünden, um im Verhältnis zu diesem eine sog. Nebeninterventionswirkung herbeizuführen (Kinne/ Schach, Mietvertrags- und Mietprozeßrecht, Teil I, § 537 BGB, Rdnr. 5).

Der Bauherr kann bereits im Vorfeld mit dem Eigentümer/ Vermieter des Nachbargrundstücks eine Ausgleichszahlung für zu erwartende Beeinträchtigungen der ortsüblichen Benutzung und Ertragseinbußen vereinbaren. In diesem frühen Stadium liegt eine gerichtliche Entscheidung über die Berechtigung und Durchsetzbarkeit von Minderungsansprüchen innerhalb der nachbarlichen Mietverhältnisse in aller Regel nicht vor. Der Vorteil ist jedoch, daß weitgehend Rechtssicherheit erlangt werden kann und gerichtliche Auseinandersetzungen vermieden werden. Wurde mit dem Bauunternehmer in den bauvertraglichen Rahmenbedingungen eine Risikozuweisung vorgenommen, empfiehlt es sich, ggf. auch den Bauunternehmer in die Vereinbarung mit einzubeziehen.
Da der Wohn- bzw. Gewerbemieter rechtlich als Besitzer des Nachbargrundstücks gilt (Palandt, Kommentar zum BGB, § 854 BGB, Rdnr. 6), ist es grundsätzlich nicht ausgeschlossen, daß der Mieter unmittelbar Ansprüche gegenüber dem Bauherrn geltend macht. Eine Vereinbarung mit dem Eigentümer des Nachbargrundstücks über eine Entschädigung wegen Mietausfalls sollte deshalb eine Klausel enthalten, wonach der Eigentümer des Nachbargrundstücks den Bauherrn von Forderungen der Mieter freistellt.

Da bei einer entsprechenden Vereinbarung für das Bestehen und den Umfang des Ausgleichsanspruchs die Berechtigung des Mieters zur Mietzinsminderung ausschlaggebend ist, können für die Berechnung des Ausgleichsbetrags die im Mietverhältnis geltenden Minderungssätze herangezogen werden, die sich exemplarisch aus der nachfolgenden Tabelle ergeben.

Beeinträchtigung Minderung
Beeinträchtigung durch Staub und Baulärm vom Nachbargrundstück (AG Saarburg, WM 1999, 64) 12–15 %
Lärm und Staub während des Abrisses zweier Häuser (AG Berlin-Schönefeld, NJWE Mietrecht 1997, 75) 20 %
Gegenüberliegende Großbaustelle beeinträchtigt den Wohnwert durch Lärmimmissionen über Monate (AG Köln, WM 1996, 92) 15 %
Lärm- und Schmutzbelästigung durch Baulärm in unmittelbarer Nachbarschaft überschreiten das üblich zu erwartende Maß bzgl. Ausmaß und Zeit: Öffnen des Fensters, normale Unterhaltung, Radio/ Fernsehen unmöglich, Arbeiten auch nach 17 Uhr und an Samstagen und Sonntagen (LG Darmstadt, WM 1984, 245) 25 %
Baulärm vom Nachbargrundstück auch bei arbeitstäglicher Abwesenheit des Mieters (AG Regensburg, WM 1992, 476) 20 %
Lärmbelästigung durch Bauarbeiten (LG München I, Urteil v. 18.12.1985, Az. 31 S 3276/85) 15 %

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