Diese Frage wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. In der akademischen Literatur befindet sich die Auffassung im Vordringen, es gebe eine Art lex mercatoria, die über dem nationalen Recht stehe. In der Praxis gibt es dafür wenig Hinweise. Zwar ist generell anerkannt, dass es Internationale Handelsbräuche gibt, doch sind diese im Einzelfall festzustellen. Eine der wenigen einschlägigen Entscheidungen zu diesem Thema ist die ICC-Schiedsgerichtsentscheidung Nr. 8873 aus dem Jahre 1997 ICC Nr. 8873 Clunet 1998, 1017 ff.1). Doch sollte nicht übersehen werden, dass die FIDIC-Bedingungen z.B. partiell herangezogen werden, um internationale Handelsbräuche zu belegen. So hat im Jahr 1983 ein ICC Schiedsgericht festgestellt, es gebe einen von FIDIC bestätigten Brauch, wonach der Besteller bei Abschluss eines internationalen Bauvertrages dem Unternehmer einen Prozentsatz des Vertragspreises im Voraus bezahlt, den er in Raten von den monatlichen Abschlagszahlungen einbehält (ICC Spruch Nr. 3790/83, zitiert nach Glavinis, Le contrat international de construction, Rn. 1992).

Die FIDIC Vertragsmuster enthalten in der Tat eine Klausel (vgl. Unterklausel 14.2 Red Book), wonach der Unternehmer Anspruch auf eine Vorauszahlung hat, die als zinsloses Darlehen an den Unternehmer ausgestaltet ist. Das Darlehen wird ratierlich an den Auftraggeber zurückgeführt. Das Vertragswerk muss zu diesem Zweck eine Regelung beinhalten, die die Höhe der Rückführungsrate bestimmt. Voraussetzung ist allerdings, dass der Unternehmer zuvor eine Anzahlungssicherheit in Form einer auf erstes Anfordern zahlbaren Bankgarantie begeben hat.

Sachverhalt:

Dem Rechtstreit lag ein Vertrag über den Bau einer Straße in Algerien zugrunde, den die Parteien dem spanischen Recht unter Ausschluss jeden anderen Rechts unterworfen hatten. Die Parteien stritten über den Umfang, in dem das Schiedsgericht auf Bräuche zurückgreifen durfte. Die Klägerin reklamierte den weitest möglichen Rückgriff auf Bräuche, während die Beklagte zugunsten einer lediglich subsidiären Anwendung im Verhältnis zum anwendbaren spanischen Recht argumentierte. Die Klägerin, die mit einer force-majeure-Situation konfrontiert war, aus der sie unter Zugrundelegung der FIDIC-Bedingungen Bauzeitverlängerung (bzw. entschuldigte Arbeitsniederlegung) und Mehrkosten geltend hätte machen können, unterlag im Ergebnis.

Aus den Gründen:

Das Schiedsgericht verwies zunächst auf die ICC-Schiedsgerichtsordnung. Art. 21 Abs. 2 (früher Art. 17 Abs. 2) der ICC-Schiedsgerichtsordnung schreibt vor:

In jedem Falle hat das Schiedsgericht die Bestimmungen des Vertrags und die Handelsbräuche zu berücksichtigen.

Hieraus folgerte das Schiedsgericht: Das bedeutet, dass die Schiedsgerichte nicht streng gebunden sind, nationales Recht anzuwenden, wenn es darum geht, festzustellen, ob und wie Internationale Bräuche zur Anwendung kommen, eventuell in Ersetzung nationalen dispositiven Rechts. Das erlaubt es den Schiedsgerichten, den Internationalen Gebräuchen breiten Raum einzuräumen. Allerdings ist Voraussetzung, dass solche Regeln existieren. Voraussetzung dafür ist, dass die einschlägigen Bräuche in der jeweiligen Branche weithin bekannt sind und regelmäßig beachtet werdenICC Nr. 8873 Clunet 1998, 1017, 10183). Das ist nach Auffassung des Schiedsgerichts weder der Fall für die Hardship-Klausel der Unidroit PrinzipienICC Nr. 8873 Clunet 1998, 1017, 10184) noch für die ENAA-Bedingungen und die FIDIC-ConditionsICC Nr. 8873 Clunet 1998, 1017, 10185).

Anmerkung:

Die ENAA und die FIDIC-Baubedingungen sind international übliche und gebräuchliche Vertragsmuster, stautieren oder begründen aber eben keine allgemeinen Rechtsgrundsätze. Zwar werden die Baubedingungen der FIDIC und der ENAA z.B. von der Weltbank empfohlen und damit praktisch für alle von der Weltbank und anderen multilaterlane Entwicklungsbanken finanzierten Vorhaben eingesetzt. Ähnliche Empfehlungen geben die Europäische Entwicklungsbank (EBRD) und z.B. die KfW-Gruppe heraus. Gleichwohl bleiben die FIDIC-Bedingungen Vorschläge für Vertragsinhalte, die erst mit der Vereinbarung durch die jeweiligen Parteien verbindlich werden. Letztlich sind die FIDIC-Bedingungen AGB, die allerdings ganz überwiegend als ausgewogen bezeichnet werden und damit im Zweifel bei uneingeschränkter Übernahme durch die Parteien keiner Inhaltskontrolle unterliegen (sollten).

Vorsorglich sei darauf hingewiesen, dass die Unidroit Prinzipien der internationalen Handelsverträge auf der Grundlage rechtsvergleichender Analysen weltweit verwendbare Regeln aufstellen (vgl. dazu eingehend Hök ZfBR 2008, 115 ff.). Diese Regeln können ergänzend herangezogen werden, um Lücken aufzufüllen, wenn das anwendbare Recht nicht oder nciht eindeutig feststellbar ist. Ab Inkrafttreten der Verordnung Rom I im Jahre 2009 ist es auch möglich, nicht staatliches Recht als Vertragsstatut zu vereinbaren (vgl. dazu Hök ZfBR 2008, 741 ff.). In der Praxis haben sich aber derartige Überlegungen bislang nicht wirklich durchgesetzt.

In der Praxis wenden Schiedsgerichte die Maxime “iura novit curia” nicht oder nur in einem sehr eingeschränkten Umfang an. Grundsätzlich sind mit der Maxime zwei Regeln verbunden:

  • Das Gericht  klärt das Recht auf (das wiederum auch auf Handelsbräuche und andere Werte verweisen kann)
  • Das Gericht wendet das Recht an ( wie es die dazu berufenen nationalen Gerichte tun würden)

Viele Schiedsgerichte klären weder das Recht auf noch wenden sie es so an, wie es von staatlichen Gerichten anzuwenden wäre. Sie verlangen häufig, dass das Recht vorgetragen und bewiesen wird. Mikrobetrachtungen überwiegen; eine ganzheitliche Methode wird -weil sehr aufwändig- nicht angewendet. D.h. es werden einzlene Regelungen diskutiert ohne ihre Einbettung eine Rechtsordnung und die dazugehörige Systematik ernstzunehmen. Das betrifft z.B. gesetzliche Kündigungsvorschriften und vertragliche Kündigungsregelungen. Zudem werden Auslegungsergebnisse nicht immer konsequent aus den anwendbaren Auslegungsregeln entwickelt. Kulturelle und rechtliche Hintergründe werden selten gründlich erwogen oder berücksichtigt. Es überwiegt gelegentlich die persönliche Sichtweise des Schiedsrichters bzw. der Schiedsrichterin auf dem Hintergrund seiner / ihrer kulturellen und/oder juristischen Herkunft. Eine vollständige Entkoppelung von Rechtsordnungen ist gelegtlich gewünscht, z.B. wenn internationale Organisationen Verträge abschließen. Wünschenswert ist das nicht wirklich, weil es tatsählich an einer vollständigen internationalen lex mercatoria fehlt, die rechtliche Diskussionen vorhersehbar machen würde oder könnte.

Herr Dr. Hök ist geprüfter Dispute Adjudicator (FIDIC President´s List) und FCL zertifiziert. Er hat an verschiedenen FIDIC Vertragswerken mit gearbeitet und ist welatwiet als FIDIC Trainer, Berater und Streitbeileger aktiv.